Atem – prana
1) Atem
Die zentrale Bedeutung des Atems sieht man daran, dass der Atem an vielen Stellen Eingang in unseren Sprachgebrauch findet. Meist sind damit kraftvolle Bilder verbunden, die etwas über unsere aktuelle Verfassung oder über einen Zustand aussagen.
Wir benutzen diese „Sprüche“ zwar sehr selbstverständlich – leider haben wir aber das unmittelbare Gefühl für deren Bedeutung immer mehr verloren. So ist uns sehr einsichtig, dass jemand körperlich oder seelisch unter Druck steht, dem die Luft wegbleibt. Bei großer körperlicher Belastung kommen wir außer Atem, da der Körper mehr Sauerstoff benötigt und wir schneller atmen müssen. Sind wir sehr beeindruckt, kann es uns den Atem rauben. Aber wir achten im Alltag nicht auf dieses Signal, welches uns unser Körper über den Atem gibt.
Dabei kommt dem Atem eine wichtige Funktion zu.
Der Atem ist ein konkretes Zeichen für Leben – wer nicht mehr atmet, lebt nicht mehr. Der Atem versorgt den Körper – ohne den Sauerstoff, den er uns zuführt, könnten viele Prozesse im Körper nicht stattfinden. Der Atem reinigt den Körper – beim Ausatmen befreien wir uns von vielen Abfallstoffen. Der Atem drückt den aktuellen Gesundheitszustand aus – ein gesunder Atem riecht anders als der Atem eines Kranken. Der Atem ist gekoppelt mit dem vegetativen Nervensystem – Anspannung und Entspannung, „aufdrehen“ und „herunterfahren“ lassen sich an der Art der Atmung ablesen und durch eine bewusste Atmung beeinflussen.
Der Atem ist ein Barometer unserer aktuellen Befindlichkeit und kann zu einem hilfreichen Anker werden.
In der Yogapraxis wird der Atem vielfach eingesetzt.
Mithilfe verschiedener Reinigungstechniken wie zum Beispiel anuloma viloma (Wechselatmung), bhastrika (Blasebalg) oder kapalabhati (leuchtender Schädel), bhramari (Bienensummen) können wir Atemwege und Lunge reinigen. Gleichzeitig massieren sie die inneren Organe, regen sie die Verdauung an, kräftigen die Muskulatur von Rumpf und Atemwegen, fördern die Durchblutung, stärken das Nervensystem, wirken ausgleichend und vieles mehr.
Während der asana – Praxis nutzen wir den Atem als Hilfsmittel auf mehreren Ebenen. Zum einen hilft er bei der Selbstbeobachtung. Durch das bewusste Wahrnehmen, wie der Atem gerade fließt – stoßweise, gepresst, wird der Atem angehalten oder fließt der Atem gleichmäßig und ohne Druck – kann ich auf die Qualität meiner Übungspraxis und auf meine aktuelle Verfassung schließen. Hierbei mache ich den Atem durch ein leichtes Rauschen im Kehlkopf, die ujjayi – Atmung, gut wahrnehmbar. Zum anderen kann ich den Atem nutzen, um jedes asana mit wenig Kraftaufwand auszuführen und die Ausrichtung zu intensivieren.
Setze ich den Atem in der Meditationspraxis ein, kann ich zunehmend zur Ruhe kommen, mich erden und das vegetative Nervensystem herunterfahren. Hat man hierbei ein wenig Übung, kann dies auch im Alltag hilfreich eingesetzt werden.
2) Prana
Im yogischen Denken wird der Atem mit prana, der Lebensenergie, Lebenskraft gleichgesetzt. prana ist in allem Lebendigen zu finden – es ist letztlich der entscheidende Unterschied zwischen einer echten Blume und einer Plastikblume.
Dadurch wird die ein ganzheitliches Weltbild deutlich. Wir identifizieren uns schnell mit dem physischen Körper. Er ist es schließlich, den wir fühlen und erfahren. Aber wir sind mehr als das. Vielleicht weniger fühlbar, aber nicht weniger real, ist die Energie, die in unserem physischen Körper existiert.
Wie unser Blut durch Adern fließt, hat prana seine eigenen Bahnen, durch die es den Körper durchdringt, die Nadis. Sie sind das Äquivalent zu den Meridianen, die viele aus der TCM kennen. Es heißt, es gäbe 72.000 nadis, allerdings beschäftigen wir uns im yoga hauptsächlich mit den drei Haupkanälen. ida, pingala und sushumna. Mithilfe der bandhas, also Energieverschlüsse, versucht der Yogi, das fließende prana dann in die gewünschten Regionen zu lenken. Das Ziel ist es, Blockaden zu lösen und so das prana zum Fließen zu bringen und eine gute Gesundheit zu erhalten.
Es gibt fünf Quellen, über die wir prana aufnehmen können:
Erde (prithivi) oder auch unsere Nahrung
Wasser (apas) oder auch unsere Flüssigkeitszufuhr
Feuer (tejas) oder auch unser Tageslicht
Luft (vayu), die Luft, die wir atmen
Äther (akasha), Kraft, die wir von anderen Menschen oder von Kraftorten bekommen.
Wenn wir einatmen, nehmen wir prana in uns auf. Ein wichtiger Grund, warum wir im yoga pranayama üben und versuchen, unseren Atem zu verbessern. Wir verändern also mit unserer Praxis auch die Qualität des prana in und um uns.
Wichtig im Zusammenhang mit prana sind auch die chakras – unsere Energiezentren. Hier sammelt sich prana. Im yoga fokussieren wir in der Regel auf die sieben wichtigsten chakras, die sich entlang der Wirbelsäule nach oben anordnen. Jedes einzelne ist unterschiedlichen Drüsen und Organen zugeordnet, und es heißt, dass die Gesundheit der einzelnen Körperteile von einem gut ausbalancierten Energiefluss in den chakras abhängt. Im Umkehrschluss kann bei einer prana-Blockade eine Disharmonie entstehen, die sich dann auch auf physischer und emotionaler Ebene ausübt. Unsere yoga – Praxis, ob nun asana, meditation oder pranayama, hält das prana in einem guten, gesunden Fluss.
prana wird in fünf vayus unterteilt. Damit werden die Flussrichtungen und Funktionen unterschieden:
prana vayu verortet man in der Region zwischen Zwerchfell und Kehle. Es bewegt sich nach unten und regelt die Einatmung und den Schluckvorgang. Es steht in Beziehung mit unserer Intelligenz, dem Nervensystem und der Atmung. Für seine Aktivierung sind pranayama wie bhastrika, nadi shodana oder ujjayi gute Übungen.
udana vayu sitzt im Hals und kontrolliert unsere Sprache, Energie, Willen, Gedächtnis und die Ausatmung. udana regelt die positive Energie, Begeisterung und Stärke. ujjayi, bhramari und viparita karani mudra sind aktivierende Übungen.
samana vayu befindet sich im Magen und Dünndarm und regelt hier das Verdauungsystem. Es dient dazu, die Energie der Nahrung im Körper zu verteilen. Hier sind agnisara und nauli anregend wirkende Übungen. samana bestimmt aber auch die mentale Verdauung und gibt uns das Gefühl von Zufriedenheit und Balance. Wenn samana vayu gestört ist, neigen wir dazu, uns an materiellen Dingen festzuhalten und besitzergreifendes Verhalten an den Tag zu legen.
vyana vayu konzentriert sich im Herzen, wirkt aber auf den ganzen Körper. Es regelt den Kreislauf und die Bewegung unserer Gelenke und Muskulatur. vyana reguliert auch die mentale Zirkulation und gibt uns Unabhängigkeit im Geist, verursacht aber auch für Isolation und Befremdung, wenn es nicht in der Balance ist. Mit kumbhaka kann dieses prana aktiviert und gestärkt werden, was sich ebenfalls positiv auf die Meditationspraxis auswirkt.
apana vayu befindet sich im unteren Bauch und regelt hier alle nach unten gerichteten Ausscheidungen (Stuhlgang, Urin, Menstruation und so weiter). Übungen wie nauli, agnisara, ashvini mudra und mula bandha wirken aktivierend. apana ist aber auch für die Eliminierung von giftigen Gedanken und negativen Emotionen zuständig.