Yin Yoga
Beim Yin Yoga liegt man nur rum? Hmmm...
Schaut man sich heutzutage in Yogastudios ein wenig um oder liest aufmerksam einschlägige Yogamagazine, stellt man fest, dass ein bestimmter Yogastil immer wieder Erwähnung findet, nämlich Yin Yoga.
Das Konzept des Yin Yoga besteht aus Haltungen, die vom traditionellen Hatha Yoga abgeleitet und mit verschiedenen Einflüssen aus dem indischen Yoga, dem chinesischen Taoismus, der traditionellen chinesischen Medizin und Erkenntnissen aus der westlichen Wissenschaft über den Körperbau und die Funktion der inneren Organe ergänzt wurden. Yin Yoga ist kein dynamischer Yogastil, vielmehr wird jedes Asana im Sitzen oder Liegen praktiziert und für mehrere Minuten gehalten. So verbindet er meditative und reflexive Aspekte. Auf körperlicher Ebene wird gezielt die Entspannung von Faszien und Bindegewebe in den Mittelpunkt gestellt. Dadurch ergibt sich als Folge auch eine Steigerung der Beweglichkeit. Auf geistiger Ebene wird der Übende zum Überwinden von Widerständen, zum Fallenlassen und zum bei sich selbst ankommen gebracht.
Die Entstehung von Yin Yoga
1987 wurde ein TV-Bericht über den äußerst flexiblen Kampfsportler Paulie Zink gezeigt. Darin erklärte er, dass er seine Beweglichkeit dem sogenannten „Daoist Yoga” zu verdanken habe, das ihn Kung-Fu-Meister Cho Chat Ling gelehrt hatte.
Paul Grilley sah diesen Bericht und wurde daraufhin Zinks Schüler. Was ihn zutiefst bewegte, war das lange, stille Halten der einzelnen Yoga-Positionen. Es dauerte nicht lange, da gab Paul Grilley selbst Kurse in „Daoist Yoga” und begann den Stil weiterzuentwickeln. Trotz inhaltlicher Unterschiede nannte er den Stil aus Ehrerbietung an Paulie Zink zunächst Daoist Yoga, später dann aber „Taoist Yoga”, um Verwechslungen in Zukunft zu vermeiden.
Paul Grilley erkannte, dass die sichere Ausführung einer Yogahaltung nicht allein von der Praxis und Übung des/der Yogaschüler/in abhängig ist, sondern auch vom Bewegungsspielraum des einzelnen Menschen, der durch die individuelle Skelettstruktur vorgegeben ist. Das bedeutet, die gleiche Yogahaltung, ausgeführt von zwei verschiedenen Menschen mit verschiedenen Bewegungsspielräumen ihrer Skelettstruktur, wird höchstwahrscheinlich aufgrund dieser Tatsache niemals gleich aussehen können.
In der Yogapraxis kann man einen Unterschied zwischen muskulärer Spannung, faszialer Spannung, Beweglichkeit des Gelenk- und Skelettapparates und der Kompression der individuellen Knochenstruktur erkennen. Konkret stellt sich YogalehrerIn und YogaschülerIn die Frage: Komme ich nicht mehr tiefer in die Haltung hinein, weil meine Faszien verklebt oder verhärtet sind, weil meine Muskulatur zu schwach oder verhärtet ist, weil meinen Gelenken die Beweglichkeit fehlt oder weil meine Knochenstruktur es nicht zulässt?
Beim ersten Hindernis kann man über Entspannung Fortschritte machen, beim zweiten und dritten Hindernis hilft Übung, beim vierten Hindernis gibt der Skelettbau den Bewegungsspielraum vor.
Sarah Powers ergänzte diese Yogaausrichtung durch Komponenten der buddhistischen Philosophie und der Traditionellen chinesischen Medizin und gab ihr den Namen Yin Yoga. Die Yin Yoga-Praxis zielt darauf ab, den Fluss des Qi (Chi) innerhalb des Meridiansystems zu stimulieren und Organsysteme, auszubalancieren und zu stärken.
Besonderheiten und Wirkung von Yin Yoga
Yin Yoga ist eine meditative Annäherung an unser Innenleben mit gleichzeitigem Fokus auf die eigene Anatomie. In der Yin-Yoga-Praxis schaut man ganz intensiv in sich hinein, man gibt sich seinen Emotionen hin, wodurch man viel über sich selbst lernen kann. Die Asanas werden zwar in einer für den Körper relativ komfortablen Position gehalten, allerdings kann das lange Halten, in der Regel zwischen drei bis fünfzehn Minuten, durchaus für viele YogaschülerInnen zu einer körperlichen Herausforderung werden.
Man lernt, immer gut auf seinen Körper zu hören und nicht an die eigenen Grenzen zu gehen. Vielmehr sinkt man Stück für Stück in die jeweilige Haltung. Dadurch erhöht sich im Körper die Flexibilität der Muskeln und Faszien, und es können zum Teil An- und Verspannungen gelindert und sogar komplett gelöst werden, wodurch der Fluss des Chi harmonisiert wird. Durch das sanfte lange Ausharren in den Haltungen können aufgrund von Bewegungsmangel entstandene Degenerationen und Fixationen wieder aufgelöst werden. Bei dieser ruhigen und meditativen Yoga-Praxis werden Hilfsmittel wie Bolster, Decken, Klötze und Sandsäcke eingesetzt.
Im Yin Yoga sollte es darum gehen, den Körper zu erkunden und zu erspüren. Es geht allein um die rein energetische Arbeit mit dem Körper, ohne Leistung erbringen zu müssen oder Anerkennung von anderen zu erlangen. Dabei ist es wichtig, eine Achtsamkeit zu entwickeln und das „Hier und Jetzt” mehr zu spüren und sich dadurch seiner selbst bewusster zu werden.
Durch das statische Üben wird gezielt auf Faszien und Gelenke Einfluss genommen. Faszien umhüllen alle Nerven, Knochen, Muskeln und Organe, sie stützen und formen den Körper und sind mit vielen Nervenenden, Schmerz- und Bewegungsrezeptoren ausgestattet. Im Körper bildet das Bindegewebe ein Geflecht ohne Anfang und Ende und überträgt so Spannungen, Bewegungen und Belastungen auf das ganze „System“. Gleichzeitig beeinflussen sie lebenswichtige Funktionen des autonomen Nervensystems. Faszien bestehen zu einem wichtigen Teil aus kollagenen Fasern. Diese reagieren erst nach mindestens 90 Sekunden auf Dehnung, weshalb Yin-Yoga-Asanas über einen längeren Zeitraum gehalten werden müssen.
Warum Yin Yoga auch anstrengend sein kann
Deshalb kann Yin Yoga durchaus herausfordernd sein – sowohl auf der emotionalen, geistigen als auch auf der physischen Ebene. Diese Praxis lehrt uns zum Beispiel, gewisse Situationen einfach einmal auszuhalten und sich Widerständen zu stellen. Da die Reize beim langen Halten stärker werden, geht bei so manchem/mancher TeilnehmerIn mit der Zeit das „Kopfkino” los, und man erfährt plötzlich verschiedene Emotionen wie Wut, Ärger, Trauer, Verzweiflung, aber auch Erinnerungen an schöne Erlebnisse mit schönen Bildern und Erfahrungen aus der Vergangenheit, die uns gelehrt haben, Ruhe zu bewahren.
Gleichzeitig sind gewisse Haltungen auch rein körperlich durchaus anstrengend. Zwar nicht, was den Kraftaufwand angeht oder in Sachen Herzfrequenz. Aber gerade wer sehr verspannt ist und/oder sehr viele Emotionen in verschiedenen Körperteilen abgespeichert hat – besonders Hüften und Schulter-/Nacken-bereich beherbergen oft unverarbeitete Themen und Spannungen –, für den oder die ist das lange Halten von vermeintlich einfachen Asanas oft sehr herausfordernd. Genau dieser Teil des Yin Yoga lehrt uns, bestimmte Situationen unseres Lebens besser auszuhalten und mit ihnen besser umzugehen, sodass wir weniger schnell aus dem emotionalen Gleichgewicht gebracht werden.
Tu dir selbst etwas Gutes
„So wie ich mich auf der Yogamatte verhalte, also so wie ich mich selbst wahrnehme und mich selbst behandle, so achtsam, wie ich mir selbst gegenüber bin, genau so werde ich mich auch meinen Mitmenschen gegenüber verhalten.“
Ein großer Teil des Yin Yoga besteht darin, nicht immer selbst aktiv zu sein und etwas verändern zu wollen, sondern die Dinge einfach geschehen zu lassen und quasi als passiver Beobachter dabei zu sein. Dadurch erfahren wir eine Entleerung des Gedankenapparats und lernen, die Dinge, die wir nicht ändern können, so sein zu lassen, wie sie sind und uns zu entspannen. Das ist der Grund, warum wir nach der Yin-Yoga-Praxis dann gelassen, ausgeglichen, entspannt und so „wundersam” ruhig sind. Neben zahlreichen gesundheitsfördernden Effekten sensibilisiert eine regelmäßige Yin-Yoga-Praxis uns für eine bewusste Körperwahrnehmung und bewirkt, die Signale von Überlastung frühzeitig zu erkennen und gezielt zu behandeln. Sie stellt das innere Gleichgewicht eines Menschen wieder her.
Durch das positive entspannte Auseinandersetzen mit uns selbst lernen wir uns selbst besser kennen und können so unsere Einstellung und unser Auftreten entsprechend weiterentwickeln. Und so auch anderen Menschen begegnen.
Ist Yin Yoga Meditation?
Yin Yoga kann durchaus als eine Art der Meditation verstanden werden. Es geht bei der Praxis von Yin-Asanas darum, alles genau so anzunehmen, wie es gerade ist – angenehme Körperempfindungen genauso wie unangenehme, schöne Gefühle genauso wie unschöne. Diesen Aspekt teilt Yin Yoga durchaus mit der Meditation. Während des Verweilens in den Haltungen haben wir verschiedene Möglichkeiten, die uns helfen, im Moment zu bleiben. Das können zum Beispiel klassische Methoden aus der Achtsamkeitsmeditation sein, etwa die Konzentration auf den Atem. Auch das Rezitieren aus einer alten Yoga-Schrift oder dem Buddhismus kann gezielt eingesetzt werden. Wenn sich die SchülerInnen beim Halten der Positionen ganz auf das Gehörte konzentrieren, ist dies auch eine Form der Meditation.
Ursprünglich waren physische Yoga-Übungen die Vorbereitung des Körpers auf die (sitzende) Meditation. Yin Yoga vermischt diesen Zweck des Übens mit einer körperlichen Meditations-Praxis.
Zu viel Yang in der modernen Welt
Es ist kein Zufall, dass Yin Yoga in den letzten Jahren immer populärer geworden ist. Von der Grundannahme ausgehend, dass das Leben, unsere Welt und alles Sein immer aus Gegensätzen besteht – warm-kalt, aktiv-passiv, Tag-Nacht, Frau-Mann, … – stellt Yin Yoga eine Ergänzung zu aktiven Hatha-Yoga-Stilen dar.
Unser Alltag ist immer noch viel zu stark vom Yang – dem starken Gegenpol des Yin –geprägt, also von Stress, Hektik und Druck, was uns auf Dauer krank machen kann. Yin Yoga steht also nicht in Konkurrenz zu den anderen dynamischen Yogastilen, die sehr Yang-lastig sind. Im Gegenteil, Yin und Yang bilden eine Einheit. Yang steht für die männliche Kraft, die unseren Muskeln zugeordnet ist, die – so wie unser Alltag auch – mit viel Bewegung verbunden werden. Yin steht für die weibliche Energie, die uns zur Ruhe kommen lässt und eher mit unseren Knochen und Gelenken in Verbindung gebracht wird. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Während wir im dynamischen Yogastil den Fokus auf die Muskulatur setzen und eher aktiv sind, liegt der Fokus im Yin Yoga auf der Passivität.
Energie im Fluss: Yin Yoga aus Sicht der TCM
Yoga und Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) gehen von der gleichen Grundannahme aus: Der Mensch hat neben seinem physischen Körper auch einen oder mehrere Energiekörper, die von einem Netz feinstofflicher Energieleitbahnen durchzogen sind. Diese werden Nadis oder Meridiane genannt. In diesen Kanälen pulsiert die Lebensenergie, in Indien Prana und in China Chi genannt.
Nach der taoistischen Philosophie und der TCM fehlt in unseren Energiekörpern oft das universelle Gleichgewicht. Man könnte auch sagen, dass der hektische Alltag unseres westlichen Lebensstils die Yang-Seite unseres Lebens repräsentiert und unser Leben in der Regel sehr Yang-lastig ist. Mit einer Yin-Yoga-Praxis stärkt man die Yin-Seite und kann so den Ausgleich dazu schaffen. Physisch liegt der Fokus hierbei auf den tieferen Schichten des Körpers wie Bindegewebe und Faszien. Diese werden im dynamischen Yoga oft gar nicht erreicht. Die Ergebnisse der modernen Faszienforschung zeigen, dass das Bindegewebe nicht, wie lange angenommen, einfach Füllmaterial ist, sondern für unser Wohlbefinden eine wichtige Rolle spielt. Neueste Erkenntnisse zeigen, dass die Meridiane in den Faszien verlaufen und deren Harmonisierung durch die langen passiven Dehnungen, wie sie im Yin Yoga geschehen, eine ausgleichende und heilende Wirkung haben.
Wer Yin Yoga das erste Mal ausprobiert, merkt schnell, wie intensiv diese Erfahrung ist – nämlich dann, wenn es einem nicht mehr gelingt, sich mit Muskelkraft gegen das komplette Einsinken in die Haltung zu wehren. Spätestens dann merkt man auch, dass Yin Yoga nicht ganz so „kuschelig” ist, wie es eventuell die als Hilfsmittel eingesetzten Blöcke und Decken glauben machen könnten. Häufig kostet es eine gewisse Überwindung, sich aufkommenden Widerständen zu stellen.